Tag der Medizintechnik 2013 in der Neuen Aula der Universität Tübingen
Auftakt für die Innovationstage, Abschluss für die ersten Medizintechnikstudenten sowie wis-senschaftlicher und politischer Dialog, dies alles deckte der Tag der Medizintechnik ab. Aus Sicht des Technologietransfers besonders interessant waren die Projektvorstellungen des Interuniversitären Zentrums für Medizinische Technologien Stuttgart?Tübingen (IZST). So kann mit dem weltweit zweiten Magnetresonanz-Positronen-Emissions-Tomograph das Wachsverhalten von Tumoren beobachtet oder Untersuchungen zum Schmerzempfinden durchgeführt werden. Den Einsatz von Assistenzsystemen bei Operationen untersucht Chris-tian Schwentner vom Zentrum für Urogenitale Tumore. Einen Fokus setzt man in Tübingen dabei auf die chirurgische Navigation in Weichteilen. Zudem kann durch eine intelligente Steuerung das Zittern des Arztes bei der Operation gezielt herausgefiltert werden. Für den Austausch mit der Industrie stehen insbesondere das Zentrum für Chirurgie und Technik sowie das für klinische Anatomie zur Verfügung. Dort können Kooperationsprojekte von Wirtschaft und Wissenschaft sowie Trainings in professioneller OP-Umgebung durchgeführt werden.
Therapie und Radiologie mit EPflex in der Uni-Kliniken Berg
Arzt und Patient sind bei einer Operation mit Herzkathedern den gesundheitsschädlichen Röntgenstrahlen ausgesetzt. Sie brauchen dieses über 100 Jahre alte bildgebende Verfah-ren, um den Katheder sicher zur Engstelle der Blutgefäße zu führen an der der lebensretten-de Stent eingesetzt wird. Auch bei anderen Operationen ist diese Kombination von Bildge-bung und minimal-invasiver Operation tägliche Praxis. Durch eine Umstellung von Röntgen auf Magnetresonanztomographie wären diese Gesundheitsgefahren gebannt. Problem dabei ist aber, dass fast alle bei der Operation eingesetzten Instrumente und Materialien magne-tisch sind. Auch die "Marker", die das Instrument erst vom Gewebe bildlich abheben, sind völlig anders zu konstruieren. Dennoch führt nach Ansicht von Bernhard Uihlein, Geschäfts-führer EPflex und Fritz Schick, Leiter der Sektion für Experimentelle Radiologie an der Uni-klinik, zukünftig kein Weg daran vorbei. Mit dem MR-fähigen Führungsdraht von EPflex geht man nun die ersten Schritte entlang dieses langen Weges.
Medizinprodukte herstellen bei Paul Horn
"Keep it simple for the stupid ? kurz KISS", lautet der Tipp von Paul-Stefan Mauz, leitender Oberarzt an der Tübinger Hals-Nasen-Ohren-Klinik, an die Medizintechnikindustrie. Allzu häufig hat er bei Entwicklungsprojekten erlebt, dass die Fantasie der Ingenieure für mögliche Fehlbedienungen im OP nicht ausreicht. Vermeintlich einfache Schrauben müssen ihren Halt in der obersten Knochenschicht finden. Auch die Vielfalt der am Markt verfügbaren Systeme kann zu Fehlbedienungen führen. Matthias Luik, Leiter Forschung & Entwicklung bei Paul Horn, kennt die Tücken der Medizintechnik-Materialien. "Kein Span würde abgehoben, wür-de man bei Chrom-Kobalt-Legierungen eine Schneide mit herkömmlicher Zerspanungsgeo-metrie einsetzen", so Luik. Dass es sich bei den kleinen Schrauben auch um beachtliche Mengen handelt, unterstreicht Lothar Horn. "Gut 15 Prozent seines Umsatzes macht Paul Horn mit Medizintechnik", so der Firmenchef zur Bedeutung dieses Segments für das Tübin-ger Unternehmen.
Medizinische Kunststoffe bei Joma-Polytec
Dr. Hans-Ernst Maute, IHK-Vizepräsident und Gastgeber des Innovationstags, begrüßte und moderierte die Veranstaltung zu Kunststoffe in der Medizin. Erst zum Schluss reite er sich ein in die acht 3-Minuten-Vorträge, um auch sein Unternehmen kurz vorzustellen. Zuvor gab es Einblicke in die Medizintechnikunternehmen Jotec und Maquet Cardiopulmonary sowie dem Polymerspezialisten Victrex. "Mokkatassen für Linkshänder" bezeichnet man im Hause Jotec Produktideen ohne Marktpotenzial. Keineswegs eine solche Tasse war der Einstieg in das "E-xtra Design Engineering" erläuterte Geschäftsführer Thomas Bogenschütz. Maßge-schneidert für einen Patienten werden in dieser Fachabteilung Gefäßprothesen entwickelt und hergestellt. 25 bis 30.000 Euro kostet eine dieser Leben rettenden Prothesen. Neben dem Markterfolg liefert dieses Produkt auch viele neue Ideen für die Serienprodukte. Die besten Ideen entstehen bekanntlich beim Kaffeetrinken. Bei Jotec ist es wohl Mokka.
Sommerempfang in der Villa Eugenia in Hechingen
Der traditionelle Sommerempfang der Bioregio STERN und des Vereins zur Förderung der Biotechnologie und Medizintechnik e.V. bilden stets ein Highlight im Jahreskalender der bei-den Life-Sciences-Branchen. Tradition hat auch die Verleihung der Preise des Scien-ce2Start-Ideenwettbewerbs im Rahmen dieser Veranstaltung. Der Hauptpreis ging an eine Projektgruppe an der Oliver Planz vom Institut für Zellbiologie der Universität Tübingen betei-ligt ist. Sie entwickelt ein Präparat gegen die Virusgrippe. Ein Schnelldiagnosesystem von Stents erhielt den zweiten Platz. Die Fraunhofer-Wissenschaftler Alexej Domnich und Jona-than Schächtele entwickelten das System, das die Diagnose des Wiederverschlusses des Blutgefäßes stark vereinfacht. Auf den dritten Platz kamen Jörg Rohde und Ralf Amann vom Institut für Immunologie der Universität Tübingen. Sieben Prozent aller Krebserkrankungen sind auf Infektionen mit humanen Papillomviren zurückzuführen. Sie erhielten den Preis für ihren Beitrag zur Entwicklung eines Impfstoffes gegen diese Art des Krebses. Partner des Sommerempfangs 2013 war das Medical Valley Hechingen.
Regeln beachten mit dem Enterprise Europe Network und Schrack & Partner im TTR
"Einen echten Standortvorteil für die Medizintechnikregion Neckar-Alb sind seine spezialisier-ten Dienstleister", so Stefan Engelhard vom Enterprise Europe Network bei der Begrüßung der Teilnehmer. Ein effizienter Zulassungsprozess kann Kosten einsparen, die die eigentli-che Produktentwicklung weit übersteigen. Mit dem Zulassungsspezialisten Schrack & Part-ner und dem Spezialisten für die für Medizintechnik immer wichtiger werdenden klinischen Studien, dem Tübinger Unternehmen CenTrial, verfügt die Region über dieses Know-how. Alleine die Zuordnung der einzuhaltenden Regeln ist komplex. So ist der Fettstift Labello Kosmetikartikel, Medizinprodukt oder Arzneimittel. Alleine die Landesgrenze gibt die Rich-tung vor. Auch die Einhaltung von teils widersprüchlichen Regeln gleichzeitig ist ein Dilem-ma. So muss beim OP-Handschuh sowohl das Medizinproduktegesetz als auch die Verord-nung für persönliche Schutzausrüstungen eingehalten werden. Gut, dass es dafür Experten gibt.
Qualität muss sein bei BOWA
Dass aus einer zumeist als lästig empfunden Einführung eines Qualitätsmanagementsys-tems ein pfiffiges Produkt werden kann, zeigte Peter Herrmann von Bemotec. Jeder Arbeits-platz muss über bestimmte Bereiche verfügen, um die für die Medizintechnikproduktion rele-vante Norm 13485 zu erfüllen. Sein Unternehmen erfüllt dies mit einer Schreibtischunterlage und darf seither DIN-konform Medizinprodukte herstellen. Und: Bemotec vertreibt diese Schreibtischunterlage gewinnbringend. Die Reduzierung der Kosten einer Krankenhausope-ration setzt sich das Comfortsystem der Firma BOWA zum Ziel. Dort muss die DIN EN 15224 eingehalten werden. Dank der in den Stecker der chirurgischen Geräte integrierten RFID-Technologie können die notwendigen Dokumente zum Gebrauch der Geräte bequem erstellt werden. Die vielen Zahlen waren kein Thema beim anschließenden Ausklang der Veranstaltung. Stattdessen wurden einige Schnitzel mit BOWA-Instrumenten seziert.
Minimal-invasiv therapieren bei Joline
"Warum wird denn nach wie vor herkömmlich operiert, wenn die minimal-invasive Chirurgie nur Vorteile bietet?" war die Frage eines Teilnehmers an Marty Zdichavsky, Leiterin der Ar-beitsgruppe Minimal-Invasive Chirurgie am Universitätsklinikum Tübingen. Stationäre Opera-tionen werden zu ambulanten, die für Patienten schonenden Verfahren sind für fast alle Krankheitsbilder vorhanden und enorme Kosteneinsparungen für das Gesundheitswesen sind die starken Argumente für die Schlüssellochchirurgie. Auf der anderen Seite steht der erhöhte Schulungsbedarf für die Ärzte und Pflegekräfte, die Logistik der deutlich höheren Instrumentenanzahl im OP und damit erhöhte Anschaffungskosten, die sich fürs Gesund-heitssystem insgesamt zwar rechnen, aber für das einzelne Krankenhaus oft nicht. Den Er-folg der minimal-invasiven Therapien wird dies aber nicht verhindern. Gerd Stumpp, Ge-schäftsführer bei Joline, zeigte neueste Entwicklungen seines Unternehmens auf. So ein Ballonkatheder für die Nebelhöhlen, den er gemeinsam mit Paul-Stefan Mauz, leitender Oberarzt an der Tübinger Hals-Nasen-Ohren-Klinik entwickelt hat. Bernhard Uihlein, Ge-schäftsführer EPflex, hat dafür den notwendigen Lichtleiter zur Verfügung gestellt.
Organe unterstützen« bei Gambro
"Keine eigenständigen Nierenerkrankungen sind das Problem für Nierenfehlfunktionen", so Nils Heyne, Nephrologe an der Uniklinik Tübingen. Diabetes und andere Erkrankungen füh-ren zum Nierenversagen. Das Problem dabei ist, dass die Erholungsquote von diesen Stö-rungen sehr schlecht ist. Erfreulicherweise konnten hier für Patienten, bei denen das Nieren-versagen weniger als drei Wochen zurück liegt, deutliche Verbesserungen erzielt werden. Die Anzahl der Dialysepatienten steigt dennoch. Markus Storr, Abteilungsleiter Research & Development bei Gambro, stellte den enormen weltweiten Bedarf plastisch dar. "Die jährlich produzierten Kapillarmembranen haben eine Länge von 600.000.000 Kilometer. Das ist viermal der Abstand Erde-Sonne", so Storr. Zunehmend verbunden wird die Dialyse mit aus-gefeilter Diagnose. Oliver Schacht, CEO der Curetis AG, zeigte eine Lösung, die die Dauer einer Laborauswertung von mehreren Tagen auf unter vier Stunden reduziert. In der Folge-veranstaltung wurde dieses Thema weiter vertieft.
Diagnose stellen mit dem Verein zur Förderung der Biotechnologie und Medizin-technik e.V. im NMI
Der Verein zur Förderung der Biotechnologie und Medizintechnik ist in den Regionen Tübin-gen bis Tuttlingen aktiv. Seine Mitglieder bilden ein breites Spektrum der beiden Life Scien-ces Disziplinen ab. Eine besondere Kompetenz liegt aber im Bereich der Diagnose. Ob beim zweitältesten Biotechunternehmen Baden-Württembergs Mediagnost oder bei Cegat, dem Sieger des Deutschen Gründerpreises 2011 - Diagnose ist das Produkt. Bertram Flehmig diagnostiziert mit seiner Mediagnost den Erreger der Gelbsucht, den Hepatitis Virus. Dirk Biskup, Gründer von Cegat, sequenziert die Gene kranker Menschen, um Bereiche, so ge-nannte Panels, zu identifizieren, die auf Erkrankungen schließen lassen. Auf optische Me-thoden hat sich Günter Gauglitz vom Institut für Physikalische und Theoretische Chemie der Universität Tübingen spezialisiert. Eine industrielle Umsetzung präsentierte Martin Winter von Cetics. Er analysiert das Infrarotspektrum von Blut und diagnostiziert mit komplexen Auswertealgorithmen eine Erkrankung an Alzheimer.
Bioinformatik einsetzen bei HB Technologies
Neuester Trend in der Medizin sind individualisierte Therapien. Weniger die OP-Schwester, als vielmehr der Computer wird dabei zum Gehilfen der Ärzte. Hohe Rechenkapazitäten kommen zum Einsatz, um Gene des Menschen zu analysieren oder Unregelmäßigkeiten im Blut nachzuweisen. Das Datenvolumen in der Bioinformatik ist dabei in manchen Projekten so groß, dass der Datentransfer via LKW auf normalen Autobahnen dem der Datenautobahn deutlich überlegen ist. Kay Nieselt, Gruppenleiterin am Zentrum für Bioinformatik der Univer-sität Tübingen, stellte so ein Projekt vor. In einem internationalen Kooperationsprojekt fuhr regelmäßig ein LKW mit Festplatten nach Spanien. Steffen Hüttner von HB Technologies verdeutlichte das Potenzial der individuellen Medizin mit einem Zitat von Severin Schwan, CEO der Roche Gruppe: "Es ist leider Tatsache, dass Medikamente heute im Durchschnitt für etwa die Hälfte der Patienten nicht optimal wirksam sind."
Operieren der Zukunft bei Erbe Elektromedizin
Nur zum Schluss der Veranstaltung übernahm Christian O. Erbe die Rolle des Präsidenten der IHK Reutlingen. Zuvor stellte er als Geschäftsführer die 1847 gegründete ERBE Elekt-romedizin GmbH vor. Damals wie heute steht das Unternehmen für Lösungen für die Chirur-gie. Axel Eickhoff, Chefarzt am Klinikum Hanau, gab Einblicke in neueste Operationstechni-ken. So ermöglicht eine genaue Bildauswertung, Gewebetiefeneffekte zu erkennen. Gerade in seinem Spezialgebiet der Gastroenterologie helfen diese Neuerungen, die Tumorbildung im Magen-Darm-Trakt frühzeitig zu erkennen. Einblicke in zukünftige Technologien gab Mar-kus Enderle, Forschungsleiter bei Erbe. Der 3D-Druck von lebendem Gewebe und andere Methoden der individuellen Medizin sowie der Begriff der Theragnostik, also die zunehmen-de Verbindung von Diagnose und Therapie, werden im OP Einzug finden.
Antibakterielle Beschichtung im NMI
Antibakterielle Schichten auf Implantaten sind notwendig, ob beim Zahnimplantat, bei Hüft-prothese oder beim Herzschrittmacher. Allzu häufig muss eine Explantation erfolgen, wenn nach einer Bakterieninfektion eine Antibiotika-Therapie keinen Erfolg brachte. Auf Platz drei der Todesgründe in Deutschland stuft Andreas Peschel vom Institut für Mikrobiologie und Infektionsmedizin der Universität Tübingen Infektionen ein. Mit einem patientenspezifischen Serum erreicht sein Kollege Friedrich Götz eine Pelzschicht, die vor der infektionsauslösen-den Ablagerung schützt. Für Christiane von Ohle von der Klinik für Zahn-, Mund- und Kiefer-heilkunde der Universität Tübingen ist die Hauptursache für die Erkrankungen im Mundbe-reich die Störung des Gleichgewichts der natürlichen Biofilme. Bei Zahnimplantaten beziffert sie die Wahrscheinlichkeit einer Infektion auf 80 Prozent, bei bis zu 56 % sogar mit Auswir-kungen auf die Knochen. Maßnahmen gegen Infektionen müssen in allen Bereichen ergriffen werden.
Smartphone im Dienst bei Ulrich Alber
Smartphones bieten zwar enorme Möglichkeiten für die Medizintechnik, vergessen sollte man dabei aber nicht das stets notwendige Zulassungsverfahren. So kann es eine generelle Steuerungseinheit für einen Rollstuhl nicht ersetzen. "Die Schalter müssen mit einem Wider-stand dem Nutzer eine Rückkopplung geben. Das ist bei den Touch-Screens mit Bewe-gungssensoren, Vibrationsfunktion und Lautsprechern nur unzureichend möglich", so Tho-mas Birmanns von Ulrich Alber. In Abstimmung mit dem TÜV entwickelte das Unternehmen aber eine Lösung für ein täglich auftretendes Problems eines Rollstuhlfahrers an dessen Arbeitsplatz. Dieser hatte das Unternehmen darauf hingewiesen, dass er beim Kaffeeholen den Kaffee mit einer Hand zurückbalancieren und gleichzeitig beide Räder seines Rollstuhls drehen muss. Jetzt erledigt er diesen Vorgang mit seinem Smartphone in der einen und der Kaffeetasse in der anderen Hand.
Ergonomie statt Orthopädie bei interstuhl
Auf 48 Milliarden Euro im Jahr in Deutschland beziffert Wolf Scheiderer die Kosten durch Rückenschmerzen. Eine Ursache für diese Volkskrankheit ist falsches Sitzen. Mit Blick auf den Zappel-Philipp im Kinderbuch Struwwelpeter bemerkte der Ergonomiespezialist aus Bad Saulgau: "Kinder sind viel intelligenter als Erwachsene. Sie bewegen sich beim Sitzen." Die Muskulatur, die es zu stärken gilt, vergleicht er mit einem Segelmast, der drei oder besser vier Seile für die Stabilität benötigt. Dass zum Wohlbefinden auch ein ansprechendes Design gehört, erläuterte Frank Schuster von der Tricon-Design AG am Beispiel der Gestaltung ei-ner Bestrahlungspraxis. Eine freundliche Atmosphäre nimmt dem Patienten die Angst vor der Behandlung und die Scheu vor einem weiteren Besuch.
Quelle: Dr. Stefan Engelhard, Institutsleiter Institut für Wissensmanagement und Wissenstransfer der IHK Reutlingen (IHK-IWW)
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